Mittwoch, 25. Dezember 2019

Die Kuan Fatu-Chronik


Mündliche Dichtung und regionale Geschichte in Westtimor

He nekan neno nahin / he tem neno nahin.
Damit Dein Herz versteht / damit Dein Bauch begreift.

In ka tonin on me / in ka a`an on me
Seine Rede ist nicht irgendeine / seine Worte sind nicht irgendwelche.
Tonis-Verse von J.Ch. Sapay

Die Dokumentation und Analyse der mündlichen Dichtungen. der von mir Kuan Fatu-Chronik genannten Regionalgeschichte Südamanubans ist Bestandteil meiner Feldforschungen zur symbolischen Kommunikation der Atoin Meto in Westtimor, Ostindonesien. Die neun mündlichen Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik bilden eine klanzentrische Überlieferung, die historische Ereignisse der vorindonesischen Domäne Kuan Fatu in einer kanonisch vorbildlich und verbindlichen Form überliefert. Die grundsätzliche Analyse dieses literarischen Genres habe ich am Beispiel der Dichtung Der Abi Loemnanu-Krieg 1999 in meiner Dissertation Die Kuan Fatu-Chronik. Form und Inhalt der mündlichen Dichtung der Atoin Meto geleistet. Diese Untersuchung bildet die Basis der Bearbeitung der acht anderen Dichtungen aus Kuan Fatu.
Die Quellen, aus der diese mündliche Dichtung der Atoin Meto schöpft, sind Mythos, Legende und historische Ereignisse aus der Migration dieser ostindonesischen Ethnie aus Zentraltimor in den Westen der Insel. Die Analyse dieser Dichtungen führt tief in ihre kulturspezifischen Überzeugungen und philosophischen Konzepte und wirft ein helles Licht auf die Aktualität, aber auch auf die Problematik dieser indigenen Überlieferungen vor dem Hintergrund einer nationalstaatlichen Doktrin im modernen Indonesien, konzeptionalisiert in dem Antagonismus agama (Religion im Sinne von monotheistischer Hochreligion) contra kepercayaan (Heidentum), die dazu tendiert, regionaler Kultur ihre Berechtigung als Marker ethnischer Identität abzusprechen. Die Dokumentation und Analyse kulturspezifischer symbolischer Kommunikationssysteme der Atoin Meto und deren Ausdruck in ritualisierter und literarischer Form lässt sich in drei kontextuell eng verbundene Bereiche ihrer indigenen Kultur gliedern:

  • die kulturspezifische orale Literatur als epische Versdichtung, die in Form einer formelhaft gebundenen, ritualisierten Rede vorgetragen wird und die ihre Lebendigkeit und Faszination aus der Spannung zwischen Gedächtniskultur und Literalität bezieht;
  • die textile Motivik, die Ikonographie der Alltags- und Ritualkleidung, die Verzierungstechnik und Musterung als Form einer symbolischen Kommunikation nutzt, die soziale Zugehörigkeit und Territorialität markiert;
  • die Beziehungen zwischen oraler Literatur und textiler Motivik, in künstlerischem Ausdruck geronnene symbolische Ikonographie, die ihre Funktion im Rahmen der Sicherung personaler und ethnischer Identität wahrnimmt.

Die Analyse der Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik stellt einen Beitrag zur regionalen Geschichte der Atoin Meto in Südzentraltimor dar. Die mündlichen Texte, die Ereignisse der regionalen Geschichte Südzentraltimors bewahren und tradieren, zeichnen sich besonders durch zwei Merkmale einer historischen Überlieferung aus:

  • Sie ist an die Aktivitäten personifizierter Kollektive gebunden, die im Sinne von Toynbee auf die Herausforderungen einer akuten Situation reagieren, eine historische Überlieferung, die Dilthey als biographische Geschichtsauffassung charakterisierte;
  • Sie begreift geschichtliche Ereignisse nicht unbedingt in der Gegenüberstellung von Subjekt und Umgebung, sondern gewinnt eine neue Dimension, weil sie den Anteil des Atmosphärischen an der Entstehung von Geschichte berücksichtigt.

Das systematische, wissenschaftliche Interesse an den sogenannten Ritualsprachen ostindonesischer Ethnien nahm in den frühen 1970er Jahren seinen Ursprung in den Forschungen des Australiers James J. Fox auf der Timor südwestlich vorgelagerten Insel Rote. Der in der englischsprachigen Literatur übliche Terminus ritual language, den Fox verwendete, reicht aber nicht aus, da er dem Phänomen der ritualisierten Rede in formellen Situationen unzureichend gerecht wird. In seinen zahlreichen Arbeiten zu diesen Thema entwickelte James Fox eine Systematik und ein methodisches Instrumentarium, mit dem Wissenschaftler die mündlichen Überlieferungen weiterer ostindonesischer Kulturen (vor allem Sumba, Flores und Timor) dokumentieren und analysieren konnten. Mündliche Dichtung, spontan komponiert und in ritualisierter Rede vorgetragen, ist nicht auf ostindonesische Kulturen begrenzt, sondern ein kulturübergreifendes, universelles Phänomen. Beginnend mit Robert Lowth und seinen Untersuchungen zur sakralen Poetik des Hebräischen besitzen wir inzwischen Bestandaufnahmen aus der ural-altaiischen Region, aus Mittelamerika, aus der Mongolei, aus China, aus Vietnam, aus Indien, aus Australien sowie für austronesische und indoeuropäische Kulturen sowie den indigenen Kulturen Australiens, den songlines, denen Bruce Chatwin auf der Spur war.
Im Zusammenhang mit der von James J. Fox und Roman Jakobson benutzten Terminologie lassen sich die Lebenszyklusrituale der Atoin Meto als rituals of oration vor dem Hintergrund ostentativer Ikonographie beschreiben. Dieser Begriff charakterisiert formelle Situationen, in denen das gesprochene Wort, die Rede, eine dominante Position gegenüber anderen symbolischen Ausdrucksweisen einnimmt. Die Felderfahrung mit der öffentlichen Performance der Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik bestätigt, dass die Lebenszyklusrituale der Atoin Meto geredete Rituale sind. Darüber hinaus sind sie Rituale der Zurschaustellung, der performativen Inszenierung einer Tracht und deren Ikonographie, die in der Ritualdurchführung eine prominente Funktion übernimmt. In den Lebenszyklusritualen ergänzen sich verbale und non-verbale Symbole in ihrem Ausdrucksverhalten und unterstützen sich gegenseitig in der Übermittlung kulturell signifikanter Botschaften.

Mündliche Dichtung und regionale Geschichte

Die Atoin Meto in Westtimor verwenden in ihren Ritualen eine literarische Form der Rede, die für andere Kulturen Ostindonesiens ungenau als ritual language bezeichnet wird. Es ist deshalb erforderlich, für die weiteren Untersuchungen zu diesem Gegenstand den Terminus Dichtung beziehungsweise mündliche Dichtung vorgetragen in ritueller Rede zu verwenden. Die Abgrenzung zwischen langue und parole, auf die diese Begrifflichkeit zurückgreift, wurde schon von F. de Saussure vorgenommen. Thematisch beziehen sich die Tonis genannten Dichtungen der Atoin Meto auf historische Überlieferungen einzelner Namengruppen (kanaf), durch die diese ihre gemeinsame Identität begründen, stabilisieren und bewahren. Die mit Abstand wichtigsten Themen erläutern die Herkunft dieser Gruppen sowie deren gegenseitige Beziehungen, ihren Ursprung und ihre Wanderrouten durch eine von Landmarken geprägte Landschaft, die von wichtigen historischen Ereignisse erzählen sowie die Berechtigung der bestehenden sozialen und politischen Ordnung sowie die Beziehungen dieser Gruppen zu ihrem Siedlungsraum. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ebenfalls der Hinweis, dass diese historischen Überlieferungen ausschließlich auf Angelegenheiten und Probleme (lasi) einzelner Allianzen von Namengruppen Bezug nehmen. Sie legen deshalb kein Zeugnis der generellen historischen Prozesse Westtimors ab, sondern interpolieren untergeordnete historische Ereignisse als Geschichte schlechthin. Thema und Gegenstand der Dichtungen der Atoin Meto ist nicht deren Geschichte als Ethnie. Die Dichter-Sprecher (atonis) komponieren Versionen gemeinsam erlebter und erfahrener, historischer Ereignisse aus der Sicht einzelner intra-ethnischer Gruppierungen in rituellen Situationen aus dem Stegreif. In seiner Opera Batak spricht Rainer Carle in diesem Zusammenhang von Clan-Orientierung, und meint damit die Version einer Genealogie-Geschichte mit weitgehender allgemeiner Verbindlichkeit bei phratrie-spezifischer Variation. Zur genaueren Kennzeichnung der Themen der Tonis-Dichtungen der Atoin Meto verwende ich deshalb den Terminus regionale Geschichte. Regional ist diese Geschichte deshalb, weil ihre Versionen unlösbar mit den vielen kleinen, einst politisch semi-autonomen Territorien Westtimors sowie mit den diese Gebiete besiedelnden Namengruppen verbunden sind. Die einzelnen Versionen historischer Ereignisse sind auch nur innerhalb dieser regionalen Zusammenhänge verständlich und interpretierbar. Der Begriff regionale Geschichte beabsichtigt keineswegs den Atoin Meto einen westlichen Geschichtsbegriff, der faktische, kritische sowie quellenorientierte Geschichtsschreibung impliziert, zu unterstellen, ist doch schon allein der Begriff Geschichts-Schreibung hinsichtlich mündlich tradierter Überlieferungen unmöglich. Für die Atoin Meto bedeutet Geschichte und historische Überlieferung die dichterische Darstellung gesellschaftlichen Handelns, im Idealfall ein adat-gemäßes Handeln, das seine Legitimation, seine Norm- und Wertorientierung sowie sein Ethos aus den Ereignissen der Vergangenheit bezieht.

Mündliche Dichtung als gemeinsame Situation

Die mündlichen Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik im Rahmen der Lebenszyklusrituale sind spontan im Augenblick des Vortrags entstehende Stegreifdichtung. Sie sind eine komplexee, unwiederholbare literarische Performance: Sie sind rituals of oration. Die öffentliche Aufführung dieser Dichtungen stellt ein schöpferisches soziales Ereignis dar, das sich für eine analytische Aufarbeitung nur schwer in einzelne Teile gliedern lässt, da diese erst im Verlauf des dichterischen Prozesses entstehen. Analytisch betrachtet, besteht die Textproduktion während eines Rituals aus

  • dem Text als spezifische Kombination von Form und Inhalt;
  • dem Dichter-Sprecher als Produzenten und seiner Stimme als Medium der Überlieferung;
  • dem Chor mit seiner Funktion des die Rede legitimierenden Versschlusses;
  • dem Zuhörer und seiner Reaktion auf die Einleibung in einer gemeinsamen Situation;
  • der sozial integrierenden Funktion der rituellen Performance.

In bestimmten Phasen der Lebenszyklusrituale versammeln sich festlich gekleidete Männer, die eigenständigen, verwandtschaftlich verbundenen oder politisch alliierten Gruppen angehören, kooperierende Gruppen mit unterschiedlichem sozialen Prestiges. Jede Gruppe stellt ihren eigenen Dichter-Sprecher, den weitere Männer im Hintergrund als Chor begleiten. Eine Phase im Heiratsritual der Namengruppen Sakan und Tanoin (Verlobung) in Kuatnana (Tetaf, Westamanuban), das als naponi bunuk hau no` bezeichnet wird, illustriert diese soziale Asymmetrie. In diesem Ritus wird ein Zweig mit Blättern (hau no`) am Haus der Brautgeber aufgehängt (naponi), der signalisiert, dass ein Heiratsvertrag geschlossen wurde. Denjenigen, der dieses Zeichen missachtet, die Braut etwa selbst umwirbt, trifft der mit diesem Zweig aktivierte Fluch (bunuk). Eine meiner Tagebuchnotizen, vom 3.August 1991, illustriert exemplarische eine solche Situation:

Idealtypisch werden die ankommenden Brautnehmer von dem Dichter-Sprecher (atonis) der Brautgeber erwartet. Wie üblich werden die Neuankömmlinge respektvoll und formell begrüßt. Diese Begrüßung ist der erste Anlass für eine rituelle Rede (tonis) zwischen den beiden Gruppen, in der der Grund des Besuches und der gegenseitige Status im Dialog erörtert werden. Mit lauter Stimme, ohne weitere Einführung, komponieren die Dichter-Sprecher abwechselnd einen rhythmischen, monoton klingenden, spontan improvisierten Sprechgesang, dessen jagender Stakkato keine einzelnen Worte mehr zu artikulieren scheint, sondern die Rede zu einem Fluss sprudelnder Klänge macht. Immer wieder bremst ein Chor, die Männer, die den Dichter-Sprecher in einem Halbkreis umgeben, seinen Redefluss, fällt in den jede Aufmerksamkeit mitreißenden Strom der Worte ein, unterbricht den Wortschwall des Dichter-Sprechers und gibt ihm so einen Augenblick Gelegenheit Atem zu schöpfen, damit er nur Bruchteile von Sekunden später unbeirrt seine Stimme erneut erhebt, um seine Zuhörern mit einem weiteren Worthagel zu überschwemmen. Die gemeinsame Rede des Dichter-Sprechers und des Chores wirken in ihrem flüssigen Verlauf wie ein polyphoner, mehrstimmiger Vortrag, wie ein Wasserfall von Worten, vor dem sich die Redepassagen des Dichter-Sprechers wie ein virtuoses Solo abheben. Körperhaltung, Mimik, Gestik und Klang der Stimme der beiden Dichter-Sprecher sind während der Textproduktion die wesentlichen, non-verbalen Ausdrucksmittel, die die soziale Beziehung zwischen Brautnehmern und Brautgebern deutlich machen.
Der Dichter-Sprecher der Brautnehmer sitzt in zusammengesunkener Haltung auf dem nackten Boden. Während seiner Rede erhebt er bittend die Hände in Richtung der Brautgeber. Der Klang seiner Stimme ist gedämpft. Sein Blick, der flehend von unten nach oben schaut, empfängt die Erwiderungen seines Gegenübers mit halb gesenktem Kopf. Selbst in den Phasen allgemeiner Heiterkeit, ausgelöst durch die Worte des Dichter-Sprechers der Brautgeber, verharrt er in dieser Stellung, seine Reaktion ein verlegenes Mit-Lachen. Sein gesamtes Ausdrucksverhalten ist das des Bittstellers, der eine, ihm übergeordnete und überlegene Persönlichkeit um eine Mildtätigkeit bittet. Seine ganze Haltung drückt Ehrerbietung und Respekt aus, darf auf keinen Fall als Unterwürfigkeit verstanden werden. Ein kulturelles Ideal zwischenmenschlicher Interaktion schreibt ihm ein bis an die Grenze der Selbsterniedrigung gehendes Ausdrucksverhalten vor, mit dem Respekt und Verehrung signalisiert werden soll. Stolz, Arroganz und alle anderen Formen der eigenmächtigen Selbsterhöhung sind wenig geschätzte Eigenschaften in der Kultur der Atoin Meto.
Der Ausdruck des Dichter-Sprechers der Brautgeber ist selbstbewusster und selbstsicherer, trotzdem nicht durch Stolz und Selbsterhöhung gekennzeichnet. Es signalisiert seinem Gesprächspartner die Überlegenheit des Gewährenden, des Großzügigen. Allein schon die erhöhte Sitzposition führt dazu, dass sein Blick von oben herab auf den Dichter-Sprecher der Brautnehmer trifft, eine Geste, die die soziale Überlegenheit der Brautgeber symbolisiert. Sein Körper ist aufgerichtet, seine Arme holen zu Großzügigkeit demonstrierenden Handbewegungen aus. Meist hält er sie über seine Brust gekreuzt, richtet seine Rede aufrecht stehend, mit erhobenem Kopf und Stimme, an den Dichter-Sprecher der Brautnehmer. Seine Stimme hat nicht den leisen, fast zitternd bittenden Tonfall, sondern ist von der ruhigen Kraft seines Selbstbewusstsein geprägt. Er ist es, der beruhigend und scherzend, aber auch bestimmt die Rede des Dichter-Sprechers der Brautnehmer leitet, um ihm immer weitere Zugeständnisse zu entlocken. Ganz automatisch drängt sich ein Vergleich auf - es ist der liebevoll-gewährende, aber auch streng-fürsorgliche Vater, der zu seinem abhängigen und gehorsamspflichtigen Kinde spricht
.

Redegewandtheit und Schauspielkunst verbinden sich in der Person der beiden Dichter-Sprecher während des gegenseitigen Redeaustauschs und unterstützen Kraft und Inhalt der gesprochenen Worte. Die Wortwechsel und der non-verbale Ausdruck der beiden Dichter-Sprecher sind eine von Dramatik und Theatralik getragene Performance, die ein Spiel, eine Spiegelfechterei zwischen den beiden Repräsentanten der beteiligten Gruppen ist, da ihr Ausgang nicht in Zweifel gezogen werden kann: Die Heirat der beiden Protagonisten ist längst beschlossen und ausgehandelt. Der ausgetragene Wortwechsel definiert kulturelle Normen und Werte, da er

  • die Idealvorstellung der Interaktion zwischen zwei sozialen Gruppen akzentuiert, die symbolisch als feto-mone (weiblich-männlich) klassifziert sind, entschlossen eine neue Allianz einzugehen;
  • die Idealvorstellung von der Durchführung einer durch die Adat vorgeschriebene Heiratspraxis vorführt, deren Ursprung die Atoin Meto auf ihre Ahnen zurückführen.

Diese mitunter stundenlang dauernden Rede-Duelle finden nicht in der ehrfürchtigen Atmosphäre einer Theateraufführung oder eines Gottesdienstes statt. Dennoch haben die Dichter-Sprecher ihr aufmerksames Publikum, das angespannt und schweigsam den Reden lauscht. Parallel finden alle anderen Aktivitäten statt, die eine Zeremonie der Atoin Meto zu bieten hat. Am Ort des Rituals herrscht ständiges Kommen und Gehen, Hunde, die sich um Essensreste streiten, springen ungeniert zwischen den Dichter-Sprechern und den Chören umher, im Hintergrund spielen Gong und Trommel zum Tanz auf, sind das Klappern von Geschirr, Kindergeplärre und angeregte Diskussionen zu hören oder startet irgendjemand den Motor seines Fahrzeuges durch. Dennoch: Die Kommunikation der beiden Dichter-Sprecher bildet die Bühne, auf der kulturell relevantes Wissen und kulturspezifische Normen und Werte dargestellt werden. Die geredeten Rituale der Atoin Meto sind episches Theater im Sinne von Bertold Brecht, ein Ort pädagogischer Belehrung über den Sinn und Nutzen ihrer auf der Adat (lais meto) beruhenden gegenseitigen Beziehungen. Textproduktion, Dichter-Sprecher und Zuhörer verschmelzen, besonders durch das chorische Rufen, das die Reden begleitet, in diesen Ritualen in einer gemeinsamen Situation. Leibliche Kommunikation ereignet sich im Alltag, wie im Betroffensein von Suggestion und Faszination unablässig, sodass die Ritualgemeinschaft in ein gemeinsames, leibliches Gefüge eingeht.

Die Form und den vorbildlich-verbindlichen Kanon, worauf die Dichter-Sprecher der Atoin Meto diese geredeten Rituale aubauen, habe ich in zwei aufeinanderbezogenen Studien dargestellt:


Ein forschungsgeschichtlicher Exkurs

Fast zwanzig Jahre nachdem A.D.M. Parera (1971) mit seiner Untersuchung einen Meilenstein zur regionalen Geschichte Westtimors gelegt hat und kurze Zeit später einige seiner Schüler, besonders C.Ch. Punuf (1972), Detailuntersuchungen zur regionalen Geschichte Amanubans vorlegten, eröffnete Andrew McWilliam mit seiner oben erwähnten Untersuchung zur regionalen Geschichte Südamanubans die Diskussion erneut. Inzwischen liegen weitere Informationen vor, die die kanafzentrischen Ergebnisse McWilliams in der Perspektive anderer Namengruppen spiegeln und das Bild der Geschichte Südamanuban präzisieren.

Im ersten Teil seiner Dissertation analysiert McWilliam eine epische Erzählung, die die Geschichte der Namengruppe Nabuasa` thematisiert. Diese Erzählung berichtet von der Herkunft dieser Namengruppe (kanaf), ihrer Migration und der Begründung ihrer politischen Macht in der Domäne Lasi im modernen Verwaltungsbezirk Südamanuban. In der Nachfolge von C.E. Cunningham (1965 und 1966) sowie H.G. Schulte Nordholt (1971 und 1980) entwirft McWilliam ein Szenario autochthoner politischer Ordnung und der diese begründenden Weltanschauung.
Die Darstellung bedeutender historischer Ereignisse, wie sie in Südamanuban, und wahrscheinlich in ganz Westtimor, praktiziert wird, ist immer kanafzentrisch und konkurrierend. Diese Einschätzung betrifft auch die Texte der Kuan Fatu-Chronik. Kanafzentrisch meint die Konstruktion einer historischen Realität durch die Perspektive des Kulturteilnehmers, konkurrierend, dass eine der öffentlich wahrgenommenen Funktionen des Mannes in der Gesellschaft der Atoin Meto darin besteht, den Namen der eigenen Namengruppe bekannt zu machen, um so die Gruppenreputation zu fördern. Die Akkumulation von Status und Prestige, resultierend aus außergewöhnlichen Situationen und Sachverhalten, gehört zu den wichtigsten Beschäftigungen des Mannes und eine der Bühnen, auf der diese Rolle wahrgenommen werden kann, ist die historische Textproduktion in den Ritualen des Lebenszyklus.

Die Kuan Fatu-Chronik als Buchausgabe

Herbert W. Jardner, Die Kuan-Fatu-Chronik: Form und Kontext der mündlichen Dichtung der Atoin Meto (Amanuban, Westtimor), Veröffentlichungen des Seminars für Indonesische- und Südseesprachen der Universität Hamburg, Band 23, 1999.

Klappentext

Die Atoin Meto sind eine bäuerliche Mittelgebirgspopulation, die das zentrale Bergland Westtimors besiedelt. Zur Bewahrung ihrer Identität und Stärkung der ethnischen Gemeinschaft gegenüber Kolonialismus, christlicher Mission, Nationalismus und westlicher Moderne dient ihnen eine überlieferte, orale und epische Dichtung, die sich am rituellen Sprechen orientiert. Sie tradiert ein historisches Weltbild sowie ethische Handlungsorientierungen.

In Die Kuan-Fatu-Chronik erschließt der Autor den Zugang zu einem bislang unveröffentlichen mündlichen Text der regionalen Geschichte der Atoin Meto interdisziplinär:

  • im Zusammenhang mit dem kulturellen Kontext der Dichtung;
  • im Rahmen historischer Quellen;
  • unter sprach- und literaturwissenschaftlichen Aspekten.

Thema dieser Überlieferung ist der Abi Loemnanu-Krieg (Makenat Abi Loemnanu), einen von drei Expansionskriegen, die seit dem späten 17. Jahrhundert zur Gründung eines der vorindonesischen politischen Territorien des heutigen Amanuban führten. Diese mündliche Dichtung leitet eine Reihe von historischen Überlieferungen der Namengruppen-Allianz Ton und Finit, Babis und Sapai ein, die zusammenfassend die Kuan Fatu-Chronik bilden, nach dem Ort, an dem die Protagonisten und Textproduzenten dieser Dichtungen seit langem leben. Meine Untersuchung Die Kuan Fatu-Chronik ist der erste Teil dieses Projekts.


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