Donnerstag, 12. August 2021

Einleitung: Das Literatur-Projekt Kuan Fatu-Chronik

Mündliche Dichtung und regionale Geschichte der Atoin Meto
(Amanuban, Westtimor)

Teil Zwei

Für die
Herren des Waldes und die Krieger-Kopfjäger des Waldes
Den Vier Stieren und den vier Männern
Nämlich Ton und Finit, Babis und Sapai
Ihrem Land und ihrem See
Mae und Nai Lete, Kua Muke und Bi Taek

Dort trafen wir uns und dort versammelten wir uns
Dort nahmen sie mich auf ihren Schoß und hoben mich auf ihren Arm


Bei der Kuan Fatu-Chronik handelt es sich um eine Sammlung mündiicher Dichtungen aus dem Regierungsbezirk Südzentraltimor (Indonesien), genauer aus Süd-Amanuban, einer hügeligen Waldlandschaft, die von ihren Bewohnern Lamu genannt wird. Die Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik, die ich erstmals 1991 und 1992 in Amanuban dokumentiert habe, bewahren die regionale Geschichte einiger Klan-Gruppen (kanaf) der Atoin Meto in Kuan Fatu, einem indonesischen Flächendorf, dass aus mehreren Weilern besteht, die seit Jahrhunderten den Siedlungraum Lamu ausmachten. Die neun Dichtungen aus Amanuban bilden nicht die Geschichte Amanubans ab. Sie stellen lediglich eine klanzentrische Version dar, neben der weitere, konkurrierende Versionen existieren. Das wichtigste Thema dieser Verse besteht in der Tradierung territorialer und politischer Strukturen, Gebietsgrenzen sowie der Besitzrechte an Territorien. Insbesondere erinnern sie an die Akteure auf der historischen Bühne Kuan Fatus und die mit ihnen agnat und affinal verbündeten sozialen Abstammungsgruppen.

Den ersten Teil der Kuan Fatu-Chronik habe ich 1999 im Dietrich Reimer Verlag Berlin, mit dem Untertitel Form und Kontext der mündlichen Dichtung der Atoin Meto publiziert, der mittlerweile vergriffen ist. Wie dieser Untertitel erläutert, handelt es sich bei der Print-Ausgabe meiner Forschungen um die grundlegende Analyse dieser ostindonesischen Dichtung, die Fragen der Grammatik und Versbildungstechnik ebenso berücksichtigt, wie ethnologische und historische Implikationen. Aus Gründen der wissenschaftlichen Themenstellung behandelt der erste Teil der Kuan Fatu-Chronik nur eine einzige Dichtung, nämlich den Abi Loemnanu-Krieg.
Nachdem der erste Teil die grundlegende Analyse einer mündlichen Dichtung der Kuan Fatu-Chronik enthält, fasst der vorliegende Weblog nun abschließend die noch verbleibenden acht Texte der Chronik zusammen. Jede einzelne Dichtung präsentiere ich in zwei unterschiedlichen Versionen: im Orignal mit freier Übersetzung ins Deutsche, der besseren Lesbarkeit wegen, versehen mit umfangreichen Kommentaren zu wichtigen Aspekten, sowie einer umgangsprachlichen Nacherzählung, ohne die ein Verständnis der minimalistischen, strikt kontextbezogenen Texte für Außenstehende kaum zu verstehen sind. Die folgende Aufzählung listet die einzelnen Dichtungen auf, ohne den Korpus an einführenden Texten im einzelnen zu erwähnen, die der Navigationsleiste zu entnehmen sind:



Der große Lopo in Nai Lete, Ort des Historikerseminars im April 1992


Einen ersten orientierenden Überblick über den Kontext der Dichtungen der Kuan Fatu-Chronik bietet ein Satz von einleitenden Texten, die in der obigen Übersicht nicht enthalten sind. Auf unterschiedliche Weise befassen sie sich mit charakteristischen Aspekten der mündlichen Dichtung und regionalen Geschichte Südamanubans:


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Mittwoch, 11. August 2021

Die Magie von Kamm und Flöte: Ein Epilog


Was ist erforderlich, um das Fremde angemessen darzustellen? Hubert Fichte ist davon überzeugt, dass jede Erfahrung mehr aufnimmt, als sich an einem Ort abbildet. Jede Erfahrung knüpft auch an frühere Erinnerungen an: Bilder, Vor-Bilder, Wege, Bewegungen. Aber wie verhält es sich, wenn etwas weder das eine noch das andere ist? Weder vertraut noch fremd, weder gewiss noch unsicher. Kann ich mich auf meine Wahrnehmung verlassen, wenn meine Wirklichkeit eine Konstruktion ist? Was kann ich wissen, was glauben. Oder: Woran muss ich zweifeln?

Es geschah an einem meiner letzten Tage in Soë. Jedenfalls in der letzten Woche. Kurz vor meinem Abflug nach Bali. Eines Morgens steht Sapay unerwartet vor der Tür. Es ist noch früh. Für mich, weniger für ihn. Er war schon einige Stunden unterwegs und hat sein Haus in Nakmofa schon vor Sonnenaufgang verlassen. Ich muss unbedingt noch jemanden kennenlernen, drängt er mich. Jemand wichtigen! Einen Mann! Er wohnt ganz in der Nähe, am Ende der Ahmed Yani, wo es zu den Bungalows der Provinzregierung hinaufgeht.
Meine Arbeit in Amanuban war beendet. Meinen Abschied hatte ich vor einer Woche aufwändig zelebriert. Alle waren gekommen. Reden und Geschenke wurden ausgetauscht. Ein Schwein wurde geschlachtet und gegessen. Und vieles mehr. Der Abschied vollendet. Was blieb war ordnen, packen, abreisen. Ob ich will oder nicht. Der neue Beamte im Kantor Imigrasi in Kupang hatte ein Machtwort gesprochen. Über meine Wünsche hinweg, meine Beziehungen ignorierend, jeden meiner Freunde in Amanuban beleidigend. Er war Javaner. Und das reichte. Wäre ich nicht Deutscher, sagte er, würde er mir Schwierigkeiten machen, die ich nicht vergäße.

Sonntag, 1. August 2021

Ein unerwartetes Ende


Mein Empfang in Noe Muke

Es geschah im Mai 1992, möglicherweise auch etwas früher. Die Regenzeit ging zu Ende, war vielleicht auch schon vorüber. Das Historiker-Seminar in Nai Lete, von dem bisher die Rede war, lag Wochen zurück, die Übersetzung der Texte und die exegtischen Interviews waren abgeschlossen. Doch J.Ch. Sapays Ambitionen und Pläne gingen darüber hinaus. Ein zweites Seminar schwebte ihm vor, ähnlich dem bereits abgeschlossenen Projekt, und ich selbst war begeistert von dem Gedanken, dass es weitergehen würde. Sapai und ich fuhren mit dem Motorrad nach Noe Muke in Südamanuban. Wir mussten einen Fluss queren, das Wasser stand uns bis an die Knie, und der Boden war von Löchern und Steinen übersät, sodass ich befürchtete, im nächsten Moment zu stürzen. Ich kam mit triefend nassen Hosenbeinen und Schuhen in den Ort. Sapai hatte Flip Flops an den Füßen, denen das Wasser nichts ausmachte, und seinen Mau auf die Oberschenkel hochgezogen. Die Kirche war gefüllt, uns erwartete ein zahlreiches Publikum, denn unser Kuan Fatu-Projekt war im Süden Amanubans ein Gesprächsthema.